O Tannenbaum

O Tannenbaum

Der Tag hatte böse angefangen. Schon am frühen Morgen hatte nichts geklappt. Manchmal wird ein Tag, der schlecht begonnen hat, im Lauf der Stunden noch ganz erträglich. Diesmal aber wurde es immer schlimmer. Der Abend schließlich versprach alles in den Schatten zu stellen.

«Wir singen heute Abend ein Lied vor», sagte unsere Abteilungsleiterin Pia in der Nachmittagspause. «Gleich nach der Chef-Rede. Als Weihnachts-Überraschung für die Kollegen.»

Vor Schreck kippte ich mir den Kaffee auf den Rock. War das ihr Ernst? Der obligatorische Weihnachts-Apéro für den ganzen Betrieb war mir sonst schon ein Graus. Drei Stunden Gedränge und Small Talk – und jetzt noch singen? Da würde ich lieber in ein Pavian-Gehege gehen. Die Paviane legen nämlich keinen Wert auf Small Talk. Und vorsingen muss man ihnen auch nicht.

Pia sah mich tadelnd an. «Was hast du schon wieder, Hanna? Ein bisschen singen wirst du wohl können.»

Dass ich nicht lache. Selbst Paviane können besser singen als ich. Als Sechsjährige musste ich an Weihnachten vor einem Verwandtenheer O Tannenbaum singen. Nach der ersten Strophe sagte Großtante Hilda, Leiterin eines Senioren-Chors, kopfschüttelnd: «Lass das Geblöke, Kind. Sag lieber ein Gedicht auf.»

Später, in der Grundschule, musste unsere Klasse ein Konzert für die Eltern vorbereiten. Bei den Proben meinte die Lehrerin, ich solle gefälligst nicht jaulen, sondern singen, wie andere Mädchen. Vor dem Konzert stopfte ich heimlich sechs Portionen Eis in mich hinein, in der Hoffnung, heiser zu werden und nicht auftreten zu können. Mein Hals steckte das Eis locker weg. Mein Darm nicht. Mitten im Auftritt musste ich auf die Toilette rennen und avancierte dadurch zum Star des Abends. Seither ist mein Verhältnis zum Singen etwas angespannt.

«Muss das unbedingt sein?», fragte ich. «Wir werden uns blamieren.» Ich sah hilfesuchend zu Yannick, unserem Praktikanten.

«Singen ist cool», meinte er. «In der Schule haben wir einmal ein Musical über Rotkäppchen gemacht. Ich war der Wolf.»

Zwei gegen einen. Verräter.

«Toll», lobte Pia. «Und du, Hanna, darfst nicht immer alles sabotieren. Es reicht, dass du heute die Sitzung geschwänzt hast.»

«Aber mein Auto…»

«Jaja, die rührende Geschichte von der leeren Batterie. Offenbar war dein Kopf auch ziemlich leer, sonst wären die Rechnungen nicht im Aktenvernichter gelandet. Hier ist der Liedtext.» Sie gab mir und Yannick je ein Blatt. O Tannenbaum. Na klar, was denn sonst.

Nach der Pause übten wir hinter geschlossener Tür, um die Überraschung geheim zu halten. Ich überlegte, ob ich diesmal mangels Eis den Durchfall einfach vortäuschen sollte, doch unter Pias strengem Blick war an Fahnenflucht nicht zu denken.

Als wir eine Stunde später im Festsaal ankamen, war er prallvoll. Ich schlich durch die Menge, schnappte mir ein Glas Wein und steuerte in eine Ecke, um mir ungestört etwas Mut anzutrinken. Jemand stieß mir in den Ellbogen, Wein schwappte auf meine Bluse. Großartig. Genau das hatte mir gefehlt. Am Morgen beim Sprint zum Bahnhof in die Hundekacke getreten, dann den Rock versaut – und jetzt auch die Bluse. Miss Perfekte Sau.

«Oh, sorry!» Ein sportlicher Mann mit schätzungsweise zwei Liter Haar-Gel grinste mich an. Blödmann. Was gab es da zu grinsen?

«Schon gut.» Ich sah mich nach einer Papierserviette um.

«Ich bin übrigens Chris.» Er legte beim Grinsen noch einen Zacken zu. Wenn er so weiter machte, würden sich seine Mundwinkel bald am Hinterkopf treffen. «Ich fange im Januar hier an. Will heute schon mal die Leute kennenlernen. Und du bist…?»

«Hanna. Von der Buchhaltung.»

«Hey, dann sind wir Kollegen! Ich komme ja auch in die Buchhaltung.» Schön für dich, du Kamel.

Es wurde an ein Glas geklopft. Der Chef räusperte sich und begann: «Liebe Kolleginnen und Kollegen, es war ein gutes Jahr…» Ich tupfte meine Bluse ab, Chris hielt galant mein Glas.

Nach der Chef-Rede trat Pia vor. Mein Darm verkrampfte sich verräterisch. Pia winkte mir ungeduldig, neben ihr strahlte Yannick.

«Ich muss singen», sagte ich.

«Singende Buchhaltung? Witzig. Was singt ihr denn?»

«O Tannenbaum.»

«Das kann ich auch», meinte Chris und folgte mir.

Pia war überrascht, fing sich aber schnell wieder und gab uns ein Handzeichen zum Beginnen.

«O Tannenbaum…», legte Chris beherzt los.

Hingebungsvoll und in der Lautstärke einer Motorsäge schmetterte er die Strophen hin. Es klang falsch, doch das schien ihn genauso wenig zu stören wie aufkommende Heiterkeit im Publikum. Unbeirrt gab er sein Solo zum Besten, mit Pia, Yannick und mir als Backgroundsängern.

Das Publikum quittierte die Nummer mit Beifall und Gelächter. Chris verbeugte sich und lachte auch. Sein Lachen war so ansteckend, dass ich unwillkürlich losprustete. Ich stand da und lachte – über unsere schräge Gesangseinlage, über mich selbst, meine besudelte Bluse und ruinierten Rock, die Rechnungen im Aktenvernichter, die leere Autobatterie und die Hundekacke. Und auf einmal war das alles nicht so schlimm.

 

4 Gedanken zu „O Tannenbaum

    1. Liebe Anna, ohne deine Vorschläge wäre diese Geschichte nicht vollkommen! Es hat mir damals Riesenspaß gemacht, mit dir zusammen auszudenken, was alles der armen Hanna passiert 🙂

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