Liebe auf das erste Wort

Liebe auf das erste Wort

«Tra-la-la, tra-la-la, ich hab’ einen Namen für meinen Blog!», singe ich und hüpfe auf einem Bein. «Schreiben für die Katz» soll er heißen, ist das nicht wundervoll? Leicht, frisch und nicht ohne ein kleines Augenzwinkern. Ich registriere rasch eine Domain mit diesem Namen, bevor mir ihn jemand in letzter Minute noch wegschnappt. Geschafft!

Erst dann komme ich auf die Idee, nach diesem Namen zu googeln. Könnte es sein, dass bereits jemand anders für die Katz schreibt? Oh nein. Mit klopfendem Herzen tippe ich den schon lieb gewonnenen Blognamen – meinen Blognamen – in die Suchzeile ein. Was, wenn ich doch nicht die Erste bin? Bitte nicht…

Die Suchmaschine spuckt einen einzigen Namen aus: Robert Walser. Nur einer. Mir fällt ein ganzer Steinhaufen vom Herzen. Mit einem Konkurrenten werde ich schon irgendwie fertig, zumal es kein Zeitgenosse zu sein scheint. Hastig überfliege ich den Wikipedia-Artikel.

Schweizer, geboren 1878 in Biel.

Lehre bei der Kantonalbank von Bern, Büroangestellter in Stuttgart, Diener auf einem Schloss in Oberschlesien, Sekretär in Berlin, freier Autor in Biel.

Gedichte, Prosastücke für Zeitungen und Zeitschriften. Romane. Heilanstalt für Geisteskranke.

Tödlicher Herzschlag bei einem Schneespaziergang am ersten Weihnachtsfeiertag 1956.

Buch «Für die Katz. Prosa aus der Berner Zeit 1928–1933».

Oh.

Eifersüchtig, aber doch auch neugierig auf meinen Schreibnamensvetter drucke ich die frei zugänglichen Prosastücke aus, beginne das erste, eben «Für die Katz», zu lesen… und die Welt um mich herum hört auf zu existieren. Die erste Zeile trifft mich mit voller Wucht:

«Ich schreibe das Prosastück, das mir hier entstehen zu wollen scheint …»

Erschüttert halte ich inne. «… das mir hier entstehen zu wollen scheint …» Ich koste diese Worte aus wie einen erlesenen Bordeaux, lasse mich von ihnen betören. Etwas Mächtiges strömt herein, überflutet meine Gedanken, nimmt mir den Atem und das Sehen und Hören und alles, was an mir und in mir da ist.

Der Moment der absoluten Wahrheit. Es fährt mir durch Mark und Bein: Ich schreibe nicht – meine Zeilen wollen mir entstehen.

Ich versuche den seltsamen Druck in den Ohren hinunterzuschlucken und lese weiter.

«… und ich schreibe es für die Katz, will sagen für den Tagesgebrauch.»

«Hie und da dichten sogar Dichter für die Katz, indem sie sich sagen, sie fänden es gescheiter, etwas zu tun, als dies zu unterlassen. Wer für sie, diesen Kommerzialisiertheitsinbegriff etwas tut, tut es um ihrer rätselhaften Augen willen.»

Ich kämpfe gegen den Sog, der mich in brodelnde Tiefen, in schwindelerregende Höhen mitzureißen droht.

«… falls ich […] der Reihe nach aufzählen wollte, was ich für überflüssig halten würde, ist Katz, ist Katz.»

«Was von Abneigung und Vorliebe, anders gesprochen, von der Katz, die gewiss ein eminentes Etwas ist, nicht verzehrt oder aufgegessen wird, das, so wird man sich einbilden können, sei bleibend, lande ähnlich einem Fracht- oder Prachtschiff im Hafen fernliegender Nachwelt.»

Mittlerweile habe ich mich vom Schock der Erkenntnis erholt; Walsers Worte bereiten mir ein intensives, fast schon physisches Vergnügen.

«Ich nenne die Mitwelt Katz; für die Nachwelt erlaube ich mir nicht, eine familiäre Bezeichnung zu haben.»

«Alles, was geleistet wird, erhält zuerst sie; sie lässt sich’s schmecken, und nur was trotz ihr fortlebt, ist unsterblich.»

Wie kommt es, dass ich das erst jetzt, mit fast fünfzig Jahren, entdecke? Wie habe ich ohne diese prickelnden Worte leben können? Ein halbes Jahrhundert – für die Katz. Mensch…

Nein, nein-nein-nein, nicht traurig sein, weiter lesen!

«Ich schreibe diese diabolischen Zeilen mit einer Wonne, die von mir wie Likör geschlurft wird.»

So beginnt «Stilvolle Novelle». Unmöglich, dass diese Zeilen von einem Menschen geschrieben wurden. Robert Walser muss ein göttliches Wesen gewesen sein – oder eben ein teuflisches. Ein Engel des Wortes. Ein Dämon des Ausdrucks.

Beim Lesen von «Salonepisode» muss ich trotz meiner Ehrfurcht schmunzeln:

«Eine anwesende Dame bewitzelte die Neutralität der Schweiz. Ich tat bei diesem Anlass, als stammte ich aus Paris. Über das Gesicht der Frau des Hauses ergoss sich ein Betretenheitsmeer.»

Bei «Diskussion» wird es mir ganz anders:

«Eine Sängerin sang fast zum Krankwerden schön, aber man gesundete in dieser Krankheit …»

Ich schnappe nach Luft. Herr Walser, das können Sie mir nicht antun. Diese zurückhaltende und in ihrer Zurückhaltung alles durchdringende Schönheit hält kein Mensch aus. Es tut weh.

Bei «Abhandlung» gebe ich mich dem Sog hin, denn:

«Wenn schon gestorben sein soll, sterbe ich doch lieber gern als ungern …»

So habe ich es noch nie angesehen. Ist es Ergebenheit? Demut? Wahre Größe?

«Wir waren lange genug in ungroßem Sinne groß.»

Ich mache mir einen Kaffee. Ich mache mir immer einen Kaffee, wenn das Leben eine unerwartete Wendung nimmt. Mit einer Kaffeetasse in der Hand lassen sich die Widrigkeiten des Schicksals viel besser ertragen, und dass jede unerwartete Wendung grundsätzlich widrig ist, wird wohl niemand bestreiten.

Mir ist soeben etwas Unheimliches passiert. Ich bin auf einen Schatz gestoßen, auf einen funkelnden Diamanten, dessen Glanz mich nie mehr loslassen wird. Mein bis anhin ganz und gar mittelmäßiges Leben ist mit Magie in Berührung gekommen, und es wird nie wieder das Alte sein. Das muss ich erst einmal verdauen.

Werter Herr Walser,

als Teil jener Nachwelt, für die Sie sich keine familiäre Bezeichnung zu haben erlaubten, danke ich Ihnen für jedes Wort, das Sie zu Papier gebracht haben, für Ihren Mut, scheinbar Belangloses zu verewigen, für die ergreifende Ehrlichkeit, mit der Sie Ihre Seele Satz für Satz offen zutage legten. Ich habe mich in Ihre Zeilen unsterblich verliebt. Das Buch «Für die Katz» mit Ihren Zeitungsbeiträgen, die Sie selbst «Prosastückli» nannten (oh, Ihre Selbstironie und Ihre teuflische Wortwahl!) liegt auf meinem Schreibtisch. Als Andenken an Ihr Tun erlaube ich mir, Ihre Worte über die «Schriftstellerei, die ein Lebensparallelismus war und bleiben wird» als Motto für meinen Blog zu nehmen.

Mögen Sie dort, wo Sie jetzt weilen, den ersehnten Frieden gefunden haben.

Hochachtungsvoll,

Luisa Berger, Ihre Verehrerin jenseits der Katz

«… und die Guten müssen lernen, bis zum Tod zur Güte entschlossen zu sein.»

Robert Walser
Robert Walser

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