Die kleine Vogelspinne

Die kleine Vogelspinne

***

Im Mutterkokon war es eng und behaglich. Die kleine Spinne schlummerte vor sich hin neben ihren Geschwistern, umhüllt von mehreren Lagen hauchzarter Spinnseide. Sie spürte, dass sie bald das sichere Halbdunkel des Kokons verlassen würde, und sammelte Kräfte für das Leben im Freien.

Eine Regung ließ sie aufhorchen. War es soweit? Zeit zum Schlüpfen? Die kleine Spinne spürte die Körper ihrer Geschwister, dicht beieinander. Was wird aus ihnen allen draußen?

Neben ihr rührte sich eine Schwester. «Du sollst schlafen», murmelte sie.

«Ach, ich kann nicht. Ich frage mich, was uns draußen erwartet», flüsterte die kleine Spinne. «Ich fühle mich so … unsicher.»

«Quatsch!» zischte die Schwester. «Wir sind Vogelspinnen, wir fühlen rein gar nichts. Schlaf.»

Die kleine Spinne rollte sich zusammen und wollte wieder in den Schlaf sinken. Noch eine Häutung, dann werden sie und ihre Geschwister zu Nymphen und kommen ins Freie…

Der Kokon erzitterte. Der kleinen Spinne wurde schwindlig. Die Wände des Kokons rissen, grelles Licht strömte hinein. Die Geschwister schreckten auf – und schon rollten sie durcheinander und kullerten durch die Risse hinaus. Die kleine Spinne hatte gedacht, sie würde bei der Schlüpfung sanft hinausgleiten, stattdessen wurde sie aus dem Kokon geschleudert. Ihre Taster zitterten, sie fühlte sich nicht bereit, sie hatte noch nicht genügend Kräfte gesammelt.

Plötzlich erschien über ihr eine riesige kreisrunde Spinne. Tausende dünner Laufbeine hingen von ihrem Körper hinab. Sie heulte wie ein Sturm.

Mama, schau, eine riesige Spinne! Ich hab sie kaputt gemacht, aber da sind noch viele kleine! Wie eklig!

Die kleine Spinne duckte sich, der Flaum an ihren Beinen flatterte.

Sie machen dir nichts, Schätzchen. Komm.

Die riesige Spinne verschwand. Der Sturm verebbte.

Die kleine Spinne wagte einen Blick um sich. Neben ihr stand die Schwester, die im Mutterkokon an ihrer Seite geschlafen hatte, rechts und links krabbelten andere Geschwister umher.

«Hast du es gehört?», fragte die kleine Spinne ihre Schwester.

«Was?»

«Den Sturm?»

Einige der Geschwister kamen näher und lauschten. «Den Sturm?», fragte ein Bruder.

«Bist du verrückt geworden?», rief ein anderer.

«Hilfe! Sie ist verrückt! Sie hört einen Sturm!», schrien andere Geschwister und rannten in Panik davon. Nur die Schwester blieb.

«Das wird schon», sagte sie. «Du bist nur etwas durcheinander, weil unsere Mutter stirbt.» Sie deutete mit dem Taster zur Seite.

Die kleine Spinne blickte hin und sah zum ersten Mal ihre Mutter. Wie anmutig sie war! So eine Schönheit kann doch nicht einfach sterben, dachte die kleine Spinne. Doch ihre Mutter lag am Boden, die feingliedrigen Beine zur Seite angewinkelt. Ihr golden schimmernder Hinterleib war geplatzt, Blut rann aus den Wunden und färbte die zarten Härchen schwarz. Ihre Taster zuckten kurz und erschlafften. Sie bewegte sich nicht mehr.

Die kleine Spinne wand ihren Blick ab. «Warum ist Mama geplatzt?», fragte sie.

«Sie muss gestürzt sein», sagte die Schwester.

«Hat das die Riesenspinne angestellt?»

«Es gibt keine Riesenspinnen. Wir sind die größte Spinnenart.»

«Aber ich habe sie selbst gesehen. Sie hatte tausend Laufbeine, aber nur zwei Augen.»

«Alle Spinnen haben acht Laufbeine und acht Augen.» Die Schwester krabbelte weg von der kleinen Spinne. «Du siehst Geister. Du bist wirklich verrückt.» Mit diesen Worten verschwand sie hinter einem Erdhügel.

Die kleine Spinne blieb allein zurück. Sie fand ein Loch in der Erde und verkroch sich dorthin.

 

***

 

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Irgendwann spürte sie, dass eine Häutung bevorstand. Sie musste etwas essen.

Vorsichtig steckte sie den Kopf aus ihrem Schlupfloch. Alles war ruhig, die feuchte Luft stand still. Schließlich traute sie sich hinaus.

Ihre Nebenaugen nahmen eine Bewegung wahr. Sie wollte zurück in ihr Loch springen, aber es war zu spät. Etwas umschloss sie. Eine Geisterspinne kam auf sie zu – und wieder dröhnte ein Sturm.

Hey, Jack, guck mal! Eine Cyrtopholis.

Pack sie ein.

Der kleinen Spinne wurde schwindlig. Als sie wieder zu sich kam, suchte sie nach ihrem Schlupfloch, fand aber nur etwas Helles und Weiches. Sie vergrub sich darin so gut es ging und erstarrte.

Sie wurde geschaukelt und musste sich an Schwindelanfälle gewöhnen. Sie verzichtete auf das Essen, stellte alle Funktionen ihres Körpers ein und versuchte zu schlummern wie im Mutterkokon. Sie dachte, wenn sie nur still bleibt, lassen die Geisterspinnen sie in Ruhe, aber die Riesen mit tausend Laufbeinen erschienen ihr trotzdem.

Wir sollten sie paaren. Die Jungen bringen uns viel Geld.

Wir haben kein Männchen. Und wenn wir eins auftreiben, frisst sie’s womöglich. Lieber verkaufen.

Die Schwester hatte Recht, dachte die kleine Spinne, ich bin verrückt. Sie saß still, um die Geisterspinnen nicht zu ärgern. In der Erde hätte sie sich besser verstecken können. Die weiße Substanz eignete sich dazu nicht so gut. Und sei’s drum, dachte sie. Schwindelanfälle, Geister, Stürme – das Leben außerhalb des Kokons war es nicht wert, sich Mühe zu geben.

Oh, eine Cyrtopholis. Hab’s mir schon immer gewünscht. Wie viel kostet sie?

Sie wird nicht verkauft.

Ach ja? Und wenn wir sagen, dreihundert?

Jack, das ist ein guter Deal, wir haben eh kein Männchen für sie.

Fünfhundert!

Das ist doch unverschämt.

Wenn der Sturm nicht aufhört, werde ich sterben, wie Mama, dachte die kleine Spinne. Vielleicht ist es genau das, was die Geisterspinnen wollen. Vielleicht haben sie auch Mama umgebracht.

Tja, junge Frau, Sie wissen selbst, eine Cyrtopholis findet man nicht gerade an jeder Ecke. Fünfhundert ist da gar nicht mal so viel.

Na gut.

Die kleine Spinne schloss die Augen. Wie fühlt es sich an, wenn man stirbt?

 

***

 

Etwas holte sie aus ihrem Dämmerzustand. Etwas Bekanntes, das Geborgenheit versprach. Die kleine Spinne erlaubte sich eine knappe Bewegung, bereit, sich sofort wieder zurückzuziehen. Ihre Taster… konnte das sein? Ihre Taster fühlten Erde. Trockene, wunderbar luftige Erde.

Eine Geisterspinne erschien und die kleine Spinne schreckte wieder zurück. Der Sturm setzte wieder ein.

Ich nenne dich Betsy. Komm, Betsy, das ist dein Terrarium. So eine Schönheit kann doch nicht in einer Plastikbox mit Watte leben.

Die kleine Spinne sammelte die letzten Kräfte und begann in der Erde zu graben. Sie grub wie verrückt, sie grub um ihr Leben. In Windeseile schachtete sie eine tiefe Höhle aus und versteckte sich darin.

Sie traute sich lange nicht hinaus. Zeit verging und nichts passierte. Keine Geisterspinnen, keine Stürme, keine Schwindelanfälle.

Einmal spürte sie, das jemand in der Nähe war. Sie guckte vorsichtig aus ihrem Versteck und sah eine fette Grille, zum Greifen nah. Die kleine Spinne konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal gegessen hatte. Hunger ergriff sie, doch sie zögerte. Wenn sie hinauskäme, würde sie wieder Geisterspinnen sehen und dann im Sturm umkommen? Sie musterte die Grille, fand an ihr aber nichts Geisterhaftes. Es war eine ganz gewöhnliche Grille mit glänzenden Hinterleibs-Segmenten, die eine prächtige Mahlzeit abgeben würde. Und die kleine Spinne wagte es. Sie machte einen Satz und stieß die Beißklauen in die Grille.

Als sie mit der Grille fertig war, sah sie sich um. Ihre Höhle machte keinen guten Eindruck. Der Eingang war eingestürzt, in der Decke klaffte ein Loch. So ging das nicht, sie musste sich ein besseres Versteck bauen. Die Grille hatte ihr neue Kräfte gegeben und sie machte sich sofort an die Arbeit.

Und da war sie wieder, die Geisterspinne. Die kleine Spinne erstarrte in Erwartung des tosenden Sturms, doch diesmal – dank der nahrhaften Grille oder aus irgendeinem anderen Grund – war es nicht mehr so schlimm.

Hallo Betsy.

Das war schon alles, der Sturm verklang. Die kleine Spinne löste sich aus ihrer Starre und grub weiter.

Es dauerte lange, bis die neue Höhle fertig war, aber die Anstrengung hatte sich gelohnt. Drinnen war es halbdunkel und heimelig wie im Mutterkokon und die kleine Spinne fühlte sich sicher. Manchmal gerieten Grillen und Schaben in die Nähe der Höhle, dann machte sie einen Blitzangriff und besorgte sich Nahrung. Die Geisterspinne erschien seltener und wurde mit der Zeit immer blasser. Auch der Sturm heulte nicht mehr, es war eher ein Flüstern.

Na, Betsy, meine Hübsche, wie geht’s?

Bald nahm die kleine Spinne beides nicht mehr wahr. Ihre Verrücktheit ließ nach. Sie dachte nicht mehr an den Tod ihrer Mutter, den Weggang ihrer Geschwister, die Geisterspinnen und die Stürme. Sie hielt ihre Höhle in Schuss, jagte, schlummerte, bekam ab und zu eine neue Haut und wurde immer größer. Mit der Zeit vergaß sie alles Schreckliche, was ihr zugestoßen war, und wurde zu einer ganz normalen Vogelspinne.

 

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